Zweites Buch: Feuerland

Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht.

 

Goethe, Maximen und Reflexionen

»Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir«

In der Nacht vom 20. zum 21. Juni warf sich der Sohn des Fellhändlers Antonio aus Pico Grande, Patagonien, vor den Zug. Es war sein erstes Lebenszeichen.

Trotz der Verspätung des Nachtzuges von Esquel nach Bahia Bianca wartete der Kandidat im Chevrolet seines Vaters, den er sich für diesen Zweck geliehen hatte, bis er den Zug kommen hörte. Dann schlug er die Tür des Lieferwagens zu, warf die Fahrzeugschlüssel zusammen mit seinem ganzen Schlüsselbund in die Pampa, rannte die wenigen Meter bis zu den Schienen und legte sich gegen die Fahrtrichtung, aber parallel zu den Geleisen, mitten auf den Boden. Es war eine Sache von Sekunden, und er hatte alles überstanden. Diese Bahnlinie war die einzige Verbindung der Gegend mit der Welt.

Das Lebewesen, dessen Identität aufgrund des stehengebliebenen Automobils bald festgestellt werden konnte, war nicht auf der Stelle getötet worden. Der Zug schob es noch ein Stück weit vor sich her wie ein Problem, das schließlich mit Gewalt gelöst wird.

Er hatte sich den kürzesten Tag des Jahres ausgesucht. Es war weit weg von jeder künstlichen Beleuchtung wirklich Nacht, und die Sterne hatten keine Kraft. Der Lokführer merkte außer einem dumpfen Widerstand, der sich aber bald verlor, nichts. Wahrscheinlich hatte er ein Schaf angefahren.

Gotische Hände! Der Chirurg des kleinen Krankenhauses von El Bolson wies entzückt auf die Hände, die für sich auf dem Tisch des Leichenhauses von Sant'Agata lagen. Die Ermittlung der Todesursache war schon abgeschlossen. Er war wohl nicht auf der Stelle gestorben, das zeigte auch die Blutspur, die sich am Gleiskörper entlangzog. Kein Verbrechen, nein, aber auch in diesem Fall kein sogenannter natürlicher Tod. Señor Antonio war durch ein Telegramm verständigt worden. Das Auto, das er zuerst vermisst hatte, sei bei El Bolsón herrenlos an der Bahnlinie stehend gefunden worden. Antonio ließ sich von Mario nach El Bolsón fahren, schnell und stumm, auf der ungeteerten Piste eine Wolke von Staub nach sich ziehend. Im Leichenhaus gab es nichts mehr zu sehen. Anhand der sogenannten sterblichen Überreste hätte der eine den anderen ohnehin nicht mehr ohne weiteres erkennen und somit identifizieren können. Dazu genügte ein Schuh, der vor ihn hingelegt wurde, zusammen mit den anderen Hinterlassenschaften, die am Ort des Geschehens gefunden worden waren.

Topographie des Todes. Er wollte sich doch die Stelle zeigen lassen, wo es passiert war. Sie ließen sich also die Stelle erklären und fuhren hinaus. Sie suchten und fanden auch bald das besagte Erkennungszeichen, die deutlich sichtbare Blutspur, die sich vom Rost der Gleise und von den Steinen dazwischen abhob. Das war also in etwa die Stelle, wo er mitgerissen wurde, und dort die Stelle, wo er zu liegen kam.

Man hätte doch nicht darüber reden können. Sie fuhren hintereinander nach Pico Grande zurück. Aber unterwegs zitterten seine Knie und seine Hände und alles. Er bebte. Sonst gab es keine Lehre aus diesem Fall. Es gab nur frühere und spätere Katastrophen.

 

Wie ich den Wind hasste

 

Wie ich den Wind hasste, die Gewalt von nichts über etwas! Ich stand nun in einer Landschaft, deren Berge keine Namen hatten, deren Seen nummeriert waren. Da stand ich nun. Aufgrund der blauen Briefe und der Bilder hatte ich mir ein Bild gemacht. Aufgrund meines Fernwehs.

Artig hatte ich ein Reisetagebuch anlegen wollen, Notizen aus Südamerika oder so. Ein Zeugnis, dass ich da war, da gewesen bin und da gewesen sein werde. Als wäre alles das letzte Mal. Und kein Wort von dem anderen in meinem Kopf, vom Befund. Aber der reiste dann doch wie ein Schatten mit, wie gesummt, wie gesungen, wie im ersten Lied der Winterreise »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus« ... es zog »ein Mondenschatten als mein Gefährte mit«, und so fort.

 

Nur eine Reise. Nur ein Reisender. Ich war nur einen kurzen Sommer lang bei ihnen, ein paar Wochen, als Gast. Es ist nicht viel, was ich mitgebracht habe. Erinnerungen, Geschichten vom Ende der Welt.

Ich hatte mir ein Bild gemacht, aufgrund der Erinnerung der Schwester, mit der zusammen ich aufwuchs, wie sie in unserem Haus fortlebte. Ich wusste nur, dass Antonio (mein Onkel) fortgefahren war, fortgefahren und nicht wiedergekommen. Aus meinem Haus, meinem Zimmer, meinem Bett, nach Amerika, ein Amerikaner. Vom selben Bett weg, in dem er und ich, zwei Gesellen, schliefen und geschlafen hatten und im Schlaf wuchsen und gewachsen waren, wir zwei Feuerzeichen.

Ich werde ihn der Einfachheit zuliebe Auswanderer nennen, ihn und alle, die es nach Pico Grande verschlagen hat.

Am Anfang war eine Weltreise, das entsprechende Gepäck. Sein Onkel hatte 1898 eine Kolonie gegründet, Pico Grande, das zunächst Nueva Alemania hieß. Er hatte Land gekauft, ich weiß nicht von wem, viel Land, und Leute wie dich und mich in eine Gegend gelockt, die sie bis dahin nicht einmal dem Namen nach kannten.

Der Amerikaner, wie mein Onkel zu Hause von seinen Geschwistern und Nachgeborenen genannt wurde, fuhr eines Tages des Jahres '38 als ganz junger Mensch nach Amerika und blieb dort. Er lebte in einem Häuschen auf dem Gelände der Estancia Las Plumas (»Die Federn«), einem Gelände von 25000 Hektar am Fuß der Anden. Las Plumas gehörte nun den Nachkommen von Don Eduardo, meinem Urgroßonkel, der ja auch aus meinem Haus stammte, und ich weiß nicht, was ihn hinausgetrieben hat, eine Hungersnot war es nicht. Seine Nachkommen waren keine richtigen Nachkommen, aber davon später. Mein Onkel, an den die Erinnerung in unserem Haus noch am lebendigsten war, hat es in der Neuen Welt zum Fellhändler gebracht, zu einer halben Indianerin, zu einer kleinen Fotosammlung, die das Leben in Pico Grande zwischen 1938 und 1973 dokumentiert und bald sehr wertvoll sein dürfte, und zu einem Sohn namens Angelo, der sich, ich weiß nicht, warum, das Leben genommen hat, damals zwanzig Jahre alt, genauso alt wie ich, kein Selbstmordalter, man macht es später oder früher, das weiß ich heute. Dass ich meinen Cousin nun nicht mehr kennenlernen würde, wusste ich aus dem letzten Brief meines Onkels, den ich noch vor meiner Abreise erhielt.

 

Der Krieg, wie es zu Hause hieß, verhinderte die Rückkehr. Das Einzige, was noch kam, waren Briefe. Nur noch aus Briefen wussten wir, was aus dem Onkel geworden war. Wir wussten nur so viel, wie in den Briefen stand. Eduardo war noch alle paar Jahre in die Heimat zurückgekehrt, bis zu seinem Tod kam er alle paar Jahre in sein Geburtshaus, mein Geburtshaus, auch nach dem Krieg ein letztes Mal noch. Antonio aber hat nur noch Briefe geschrieben. »Ich bin gut angekommen. Ich bleibe vorerst. Ich habe ein Halbblut geheiratet. Wir haben unseren Sohn Angelo getauft. Ich habe jetzt einen Fellhandel. Ich komme mit meinem Lastwagen in halb Patagonien herum. Angelo spricht schon Deutsch und Spanisch, wächst, ist ein ruhiges Kind, ist ein Träumer, hat sich das Leben genommen.«

Die Bilder landeten in unserem Album, in den Annalen einer nicht ganz namenlosen Familie vom Land mit ihren Äckern und Knechten und ihren Ferkelhändlern.

Amerika hatte sich früh in meinen Kopf gefressen, schon in einer Zeit, als ich Nord- und Südamerika noch nicht unterscheiden konnte. Mein Amerika war der Schauplatz eines kindlichen Fernwehs. Warum hatte es ihn aus meinem Haus, dem Zimmer, dem Bett, hinausgetrieben? Ich konnte ja nicht einmal die Gründe angeben, die mich hinausdrängten, oder den Grund der Gründe. Die ganze Kindheit habe ich gewartet und warten müssen. Ein ganzes Leben verstrich mit meiner Ungeduld. Die ersten Jahre waren Jahre, die nichts wert waren, die ich mit meiner Ungeduld verschlief, mit meiner Wut auf die Zeit, dass sie mich grundlos festhielt, allein deswegen, weil ich jung war. Zur Strafe musste ich zu Hause bleiben. Zu Hause war die Zeit gefüllt mit Leben und dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, machen musste, mit Messerimpfungen, Kinderschuhen, Kinderkleidern, dem Empfinden, noch nicht ganz in die Welt hineingewachsen zu sein, noch nicht ganz auf der Welt zu sein, so klein war ich, und mit leerem Magen, meinem Hunger und Durst, mit dem ausbleibenden Haar zwischen den Beinen, dem fehlenden Achselhaar, ich weiß schon, mit meiner Vorgeschichte und meinem Muttermal.

Kam ein blauer Brief aus Amerika, blieb ich an seinen Wörtern hängen, Wörter waren es, die mich verzauberten. Man las mir vor und sagte mir, dass im Grunde alles ganz wie zu Hause sei, die Anden als die Alpen meines Onkels, die Schafe als seine Kühe, der Lago Verde, den meine Verwandten so getauft hatten, weil er bis dahin auch nur eine Nummer der Landvermesser gewesen war, als sein Bodensee.

Sobald ich schreiben konnte, schrieb ich von meinem Hunger und Durst und schickte ihn nach Amerika. Diese Briefe waren die ersten Aufzeichnungen aus einem Leben, das mir geschenkt wurde, wie man sagte, erste Spuren, die ich Jahrzehnte später am Fuß der Anden wiederfand. Mein Onkel hat alles aufgehoben für mich. Er hat alles für mich hingelegt und mich wissen lassen, dass ich alles zurückhaben könne, dass er mir meine Erinnerungen schenken wolle zur Erinnerung an ihn.

Er wusste alles. Ich hatte ihm meine Gefangenschaft geschildert, so wie ein Kind, das Wort Gefangenschaft fiel nicht. Aber er hat mich verstanden. Wenn ich zu straucheln drohte, besann ich mich auf meine Fluchtmöglichkeiten in die Kordilleren. Und er? Trostbriefe schrieb er mir, ich weiß. Schon der erste Brief war ein Trostbrief, ganz so, wie man einem Kind schreibt: »Hier schicke ich Dir eine Ansicht von Pico Grande. Die Estancia unseres Onkels liegt drei Kilometer nach Nordosten. Die Schneeberge im Süden bilden die argentinisch-chilenische Grenze. Die zwei Drahtzäune mit dem schwarzen Strich auf der Ebene deuten den Weg nach Chile an. Zwischen der Ebene und der Hügelkette läuft der Rio Pico. Der andere Weg führt zum Lago No. 3. Das große Gebäude ganz rechts ist unser Clubgebäude. Daneben die Kirche. Die Gebäude links sind die Polizeistation, die Schule, das Gefängnis und das Krankenhaus. Ganz links wären das Hotel und die Geschäftshäuser. Viele Grüße! Dein Onkel.«

Ich verstand alles: Ansicht, Estancia, Schneeberge, Nordosten, Drahtzäune, schwarzer Strich, Ebene, Weg, Hügelkette, Fluss, See, Kirche, Polizeistation, Schule, Gefängnis. - Grenze, dazu konnte ich mir meine Grenzen denken. Ich hatte ja gleich mehrere Grenzen zur Verfügung. Die Zeit türmte sich vor mir, je klarer die Sicht war. Je mehr sie als Fernsicht bezeichnet werden konnte, desto höher die Berge, die ich sah. Meine Menschen nannten mir Zahlen, die Höhe in Metern über dem Meer. Die Anläufe zu meinen Fluchten versandeten oder zerschellten und sind in meiner Vorgeschichte untergegangen.

Aber eines Tages hielt ich mein Ticket doch in der Hand. Ich war nun schon fast bis zu meinem dritten Siebenjahreszyklus gewachsen und hatte mich schon zum wiederholten Male abgestreift, hatte meine definitive Größe erreicht und würde von nun an wieder zurückwachsen. Doch die schwarzen Löcher trug ich immer noch und immer mehr mit mir herum, zusammen mit der ansteigenden Erinnerung, die sich mit dem Schmerz zusammentat, mich überwältigte und bald zu ihren Schauplätzen abkommandierte, und der Tod war mir zum ersten Mal im Präsens erschienen, in einem Satz im Indikativ, und ich reiste nun schon ohne mein Muttermal und mit einem zusätzlichen Phantomschmerz.

 

Da bin ich, adsum! Am Ziel. Ich hoffte, es würde doch noch alles ganz anders werden.

Doch zwanzig Kilometer vor Pico Grande musste ich diese Hoffnung endgültig aufgeben. Seit zweihundertfünfzig Kilometern war mir alles gleich trostlos erschienen, in Staub und Wind war die Maschine aufgeschlagen, mit Mühe noch gelandet. Ich hatte mich mit meinen Sommerhosen dem Wind übergeben. Eine armselige Oberfläche von Hütten, Treibgras und Disteldünen. (Den Himmel hatte ich zunächst übersehen.) Als es keinerlei Hoffnung mehr gab und die Außenbezirke von Pico Grande erreicht waren, Alto Pico Grande (eine Ansammlung von Wellblech) passiert war und sich eine Veränderung nicht einstellte, als ich schließlich das Schild Pico Grande - Provincia de Chubut hinter mir hatte: An dieser Stelle meiner Reise hätte ich weinen können. Doch ich dachte an den Brief, meinen Brief, den ich geschrieben hatte. Meine Hoffnung war nun, der Brief möge noch gar nicht angekommen sein. Wahrscheinlich war er auch noch gar nicht angekommen, denn ich hatte ihn ja erst vor einer Woche abgeschickt und dachte, meinen Onkel zu überraschen. - Und doch hoffte ich, die Nachricht an meinen Onkel, dass ich schon unterwegs sei, auf dem Weg zu ihm, abfangen zu können. Abfangen, an mich nehmen und zerstören. Aber so weit musste ich gar nicht mehr gehen.

Denn der nächstbeste Mensch, den ich nach Don Antonio fragte, sagte mir: »fallecido«. Was sich wie »gefallen« anhörte, ein Wort, das sich in meiner Sprache schlimm anhörte.

Er sagte: »fallecido«.

Endet so eine Auswanderung?

Ich schaute im Wörterbuch, das ich mit mir führte, nach, denn dieses Wort kannte ich nicht. Da stand es: »fallecido - verschieden.«

... Vor ungefähr zwei Wochen

Mein Don Antonio? Mein Onkel?

Endet so eine Auswanderung?

 

Mich zerriss es vor Schmerz, dass es mich nicht vor Schmerz zerriss.

 

»Macht nichts«, dichtete ich, etwas, einen Vers mit »macht nichts« und »c est la vie« in der Mitte, den ich leider vergessen habe. Denn wenn es geblutet, so langsam wieder aufgehört hatte, dichtete ich immer, das war mein Bepanthen, meine Wundsalbe; und dann sollte auch noch ein kleines Heftpflaster helfen, sowie unsere Mutter, ein Mensch, der mir sagte, dass es halb so schlimm ist, war und sein würde, und mir die Haare aus dem Gesicht strich und alle Tränen abwischte.

Mich schmerzte mein Muttermal, und dich schmerzte mein Phantomschmerz, meine Mutter, mein Muttertier.

AUSWANDERER! Dein Bild ist blass geworden. Und du verfaulst nun anderswo. Aber auch als du noch mitten unter uns warst, haben wir nur aus Verlegenheit hinter dir hergewinkt und hergeweint. Wir wussten nicht, was wir dir zum Abschied sagen sollten. Der Chor sang Nun ade, du mein lieb Heimatland und blieb zurück. Der Auswanderer blieb fort. Wärst du noch einmal zurückgekehrt, wäre dein Bild noch einmal in unserer Zeitung erschienen. Wir hätten lesen können: dass du noch drei Schulkameraden lebend angetroffen hast und dass die anderen tot waren. Dass du ein paar Wochen in der alten Heimat bleiben möchtest und dann zurückfahren. Aber du bist nicht zurückgekommen.

Doch ich will jetzt noch einmal zu dir. Zu dir und allem, was dich am Leben hielt.

 

Wie war es?

 

»Wie war es?

Es war Staub und Wind, von Drahtzäunen durchzogen. Wie war die Kälte?

Sie war eingeteilt in Quadrate aus Wind.«

 

Die Wolken hingen für sich. Der Himmel war fern. Es regnete. Aber der Boden fehlte. Anstelle des Bodens Steine. Und dazwischen waren schon Gräser heimisch und erste Lebewesen, die sich von selbst fortbewegen konnten und unsichtbar blieben. Die Wurzeln fanden sich zwischen den Steinen zurecht. Manche lagen frei und rückhaltlos, von oben und unten geschunden, aber immer noch am Leben.

Die Flamingos, die Fragezeichen, grazil, einbeinig, rosarot.

Doch alles zog nur vorbei.

Die Tiere standen mit ihren Brandzeichen unter einem hohen Himmel. Bei einem Schaf lohnte sich das Brandzeichen nicht. Aber ein Kind bekam es schon beim ersten Einfangen. Die Schafe wurden einmal im Jahr zusammengetrieben, das genügte. Von den herumziehenden Schafscherern an den Vorderbeinen zusammengebunden und blutig geschoren. Bekamen sie nicht genug zu saufen, scherten sie die schönsten Schafe zu Tode und sagten »So geht das« vor sich hin und »Armes Schaf.«. Es war ein großer Haufen, ein Berg von Schafen, im Pferch zusammen blökend und den Schafschrei einer zerzausten Landschaft anvertrauend. Dann standen sie nackt unter freiem Himmel und Disteln. Allein ihre widerständigen Mäuler zum Fressen und Blöken. Es war so kalt in der Welt. Die geschorenen Exemplare standen mit den ungeschorenen in Regen und Wind, die auf ihrer Haut brannten. Das eine und das andere Gerippe lag schon ganz ausgebleicht in Sonne und Wind. Auch am Ende der Welt gab es keine Gnade, am Ende der Welt gab es den Schakal. Der kam und lebte von den Resten an der Stelle, wo das Lebewesen zusammengebrochen war.

Die Schakale mit ihrem alles verwertenden Magen, mit ihrer Salzsäure im Bauch.

 

Das Land war sehr früh, kaum dass die Eindringlinge Fuß gefasst hatten, in Quadrate eingeteilt worden, Quadrate fünf Kilometer lang und breit. Nachdem der Boden unter den Füßen der Indianer weggezogen worden war (Nomaden, nichts als Nomaden), das Land stückweise an Interessenten, die nichts als den Lageplan kannten, verkauft worden war, kamen auch bald Horden von Tagelöhnern von überallher, Strategen, Landvermesser, später Fußvolk, und zogen die Zäune meiner Onkel und vielleicht auch Ihrer Onkel durchs Land.

Da ich nun einmal hier war, in einem Gelände aus Pappeln und Wind, glücklich gelandet, und auch, da ich nicht so einfach umdrehen konnte, dachte ich wenigstens das Grab zu suchen und zu besuchen, und auch jene Verwandten, die noch nicht gestorben waren.

Die Estancia stand prächtig am Ende eines Weges, der von Pappeln gesäumt war. Ihr Name aufrecht über der Tranquera, dem Eingangstor unten an der Straße, kilometerweit entfernt. Dann immer geradeaus, wurde mir gesagt, dann wirst du eine Anhöhe sehen, unseren Friedhof. Ich sah das schöne Gras, die vielen Schrunden, die offenen, mit altem Regenwasser gefüllten Stellen. Bald kam fettes Gras, das die Nähe einer Siedlung versprach. Bald kamen auch die Lupinen, doch diese blühten auch als Unkraut weiter, blühten an längst verlassenen Stellen. Das erste untrügliche Zeichen aber war ein abgeernteter Kirschbaum, ein patagonischer Krüppel, wie alle Kirschbäume, die ich noch sehen sollte. Dann folgte meine Stille bis zum Schrei des gelben Vogels mit den schwarzen Federn an den Flügeln, der zusammen mit dem Wind ohne Namen blieb.

Ich sah die Anhöhe. Ich kannte sie vom Foto. Es war wie ein Wiedersehen. Von hier aus wurde ich mit Fernweh versorgt, mit blauen Briefen.

Jetzt stieß ich auf ein Meer von Lupinen und gelben Rosen. Es war alles wie zu Hause und alles ganz weit entfernt davon.

Brachte ich nicht meinen Schatten mit?

 

Sollte ich zu Hause sagen: Es ist alles anders?

Erst war ich auf den nächstbesten Verrückten hereingefallen. Ihn nach dem Weg zu Don Antonio gefragt. Von ihm sogleich zum Friedhof geschleppt, zum falschen. Ich wusste ja nicht, dass mein Onkel tot war. Aber er lag nicht auf diesem Friedhof, Gottesacker von Pico Grande, der als letzte Ruhestätte nicht zu erkennen war, eher Müllplatz als Gottesacker, beides ein wenig. Nach außen keine Trennungslinie, keine Mauer, nicht einmal ein Zaun als Grenze zum Leben hin. Von den Toten kein Zeichen, nur der Verrückte und ich. Schon wollte ich zum ersten Mal auf dieser Reise mein Tramalfläschchen anbrechen, das mir immer wieder das Leben erleichterte. »Du bist der Sohn Gottes!«, stieß er aus und zeigte auf mich, »du bist gekommen, um uns zu erlösen!« Alles in einem schlechten Spanisch. Er warf sich mir zu Füßen und krallte sich fest. Es gelang mir, mich loszureißen. Willst du uns so weiterleben lassen!, schrie er mir hinterher. Er wollte wenigstens ein Trinkgeld für seine Führung haben.

Bald erfuhr ich: Mein Onkel war tot. »Fallecido« hieß hier das vornehme Wort dafür. Vorher schon hatte sich die Enttäuschung über alles, was ich sah und sehen musste, als Schatten über mich gelegt, zusätzlich zu dem von mir mitgebrachten Schatten. Das Fernweh war längst von der Erinnerung eingeholt. Das Reisefieber mit dem Beginn der Reise verflogen, und ich war längst nüchtern.

Ich musste mich mit meinen ferneren Verwandten begnügen, den Abkömmlingen meines ersten Onkels, der Pico Grande gegründet hat. Sie nahmen mich auf. Im ersten Augenblick wollte ich gleich wieder abreisen, irgendwo anders hin nach einigen Tagen. Aber sie sagten mir, ich solle bei ihnen bleiben, so lange, wie ich wollte, und das habe ich getan. Ich werde sie Onkel nennen, Tanten, Cousins und Cousinen, für immer, der Einfachheit zuliebe. Sie waren es nur weit entfernt und irregulär dazu, wie man mir sagte. Denn ich war nur der Verwandte eines Betrogenen.

 

Mein Aufenthalt begann mit dem Besuch der Gräber, ganz so, wie zu Hause die Feste begannen. Genau wie zu Hause lag auch der Friedhof meiner Verwandten auf einem Hügel, von dem aus man alles sah. Zu Hause war der Säntis unser Fujiyama, und hier war es ein genauso schöner Berg, dessen Namen sie mir nicht sagen konnten.

 

Da lag er! - In einer Reihe mit den anderen, das heißt, ich las auf einem Stein meinen Namen und sagte unhörbar »vorbei« vor mich hin.

Ein paar Tage nach diesem Besuch erfuhr ich von der Doctora, noch einem Menschen, den es hierher verschlagen hatte, als solche lernte ich sie kennen, wie es so weit gekommen war. In einem schönen altertümlichen Deutsch, wie sie es gelernt hatte, sagte sie mir »Meine Wiege stand am Dnjepr«. Sie kam nämlich aus Kiew, von wo sie schon als Kind geflohen war, und dann immer wieder geflohen, es waren Namen wie an einer Perlenschnur, die ich aus den Reisekatalogen kannte, die damals, wie der Atlas und die Wäscheseiten im Neckermannkatalog, im Himmelreich eine Erstversorgung in Sachen Sehnsucht sicherstellten: Kiew, Odessa, Berlin, London, Lissabon, Santo Domingo, New York.

Jetzt hier, Chefin der örtlichen Krankenstation, seit Peron war alles frei, die schöne Baracke nannte sich Krankenhaus, seit dreißig Jahren war sie hier, und machte sich seit den Kindertagen von 1920 über den Menschen und die Welt keine Illusionen mehr, und ich versuchte, alles in meine Sprache zu übersetzen:

Rosa, meine schöne Cousine, mit ihrem Gesicht, als wäre sie die Schwester von Joy Fleming, Geschwisterkindskind, mit dem ich in den kommenden Wochen mein Leben nicht teilte, meine Brieffreundin, die ich nun zum ersten Mal sah, wie sie lachte und lebte und traurig schauen konnte, hatte sich auf die Zeichen hin, dass es bei Onkel auf das Ende zugehe, an sein Bett gesetzt und ihm gesagt, dass er einen wunderschönen Tag vor sich habe: Schon in zwei Stunden oder noch früher könne er im Paradies sein. Ein frisch ausgeschütteltes Kopfkissen bekam er nicht, aber die Zusage, vielleicht in zwei Stunden schon Jesus persönlich vorgestellt zu werden. Sie war nämlich vor geraumer Zeit in die Fänge einer amerikanischen Sekte geraten, die den letzten Satz Jesu »Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« ganz wörtlich genommen und es selbst bis Pico Grande geschafft hatte, wie ich auch. Mag sein, dass wir es uns mit allem etwas zu einfach machten, weiß nicht. Aber so viel konnte mir die Doctora mit Gewissheit sagen: Es war niemand da, kein Mensch, dem Antonio ein Zeichen geben konnte, dass er dies nicht wolle, dass er hierbleiben wolle, und sei es nur für ein einziges Mal noch.

Es ging nicht voran. Doch dann verpasste Rosa den entscheidenden Augenblick. Sie hatte gesagt bekommen, dass sie dem Sterbenden dabei ganz heftig ins Gesicht lächeln müsse. Aber mein Onkel starb, und es konnte nicht mehr festgestellt werden, wann er gestorben war.

Alle anderen verfolgten Rosas Rettungsaktion am Rande. Jetzt standen sie um einen Toten herum. Das alles hatte sich in einem gewöhnlichen Bett abgespielt.

»Dann war es für meine Medizin zu spät. Ich merkte nur, dass Don Antonio am kommenden Mittwoch nicht zum Tee kam.«

Soweit die Geschichte der Doctora zum Sterben meines Onkels. Es war ein schöner Grabstein.

Ich gab ihr ja recht, aber auch sein Grabstein, den ich sah, der mir gefiel, ein wunderschöner Grabstein, den ich von Anfang an mit Pico Grande verbinde, war doch nur der Beweis, dass einer tot war.

Mein Urgroßonkel, der Gründer von Nueva Alemania, am Ende des Ersten Weltkriegs in Pico Grande umbenannt, lag da neben seiner Frau, einer Schweizerin, einer Ehebrecherin namens Lys, lag da neben seinen Scheinkindern und neben allen, die hier lagen. Auch mein Onkel, der denselben Namen, Familiennamen hatte, der so hieß wie ich, lag hier. Es dürften schon fünfzehn Gräber gewesen sein, die ich sah. Der Familienfriedhof, Muttersprache Deutsch, auf dem weithin sichtbaren Hügel zwischen Pampa und Anden, war im Lauf eines halben Jahrhunderts auf die Größe von fünfzehn Einzelgräbern angewachsen. Diese stattliche Zahl hat allein ein Ehebrecher ermöglicht, zusammen mit einer Ehebrecherin. Sonst wäre unser Friedhof in Patagonien leer geblieben, bis auf das Grab meines Urgroßonkels, seiner Frau, meines Onkels und seines Sohnes, der sich das Leben genommen hat im Jahr, als er so alt war wie ich. Und kurz darauf war der Onkel dazugekommen. »Um's Numluege kaschd nimme rumluege«, so hieß das zu Hause.

Und zu Hause, zitierte die gescheite Sau-Marie, Tochter des Zimmermanns - sie hieß so, weil sie in die Ferkelhändlerschwanzdynastie eingeheiratet hatte -, wenn sie an einem frischen Grab stand, immer fast auf Hochdeutsch den Lebenssatz ihres Vaters: »Man muss beim Boue ouch ans Abreiße denken!« Ja.

Für alles hatten wir einen Satz parat, selbst für das Nichts.

Ich sah es.

 

Lys hatte immer wieder mit diesem Tucher geschlafen. Karl Tucher war ein Wildwestrüpel, der Nord- und Südamerika nicht auseinanderhalten konnte, der in Bremerhaven aufs Schiff und in Buenos Aires vom Zwischendeck aus an Land getrieben worden war. Er kam mit demselben Schiff wie mein Urgroßonkel. Er war von ihm mitgenommen worden, ich weiß, denn schon zu Hause war er unser Knecht gewesen, er hauste in der Stallkammer, bis ihn der Urgroßonkel mitnahm, gedacht für die Schneisen im Urwald. Karl Tucher war auch ganz entfernt richtig verwandt mit mir. Was unsere Blutsverwandtschaft angeht, war ich mit dem Urgroßonkel und Karl Tucher gleich nah verwandt, ich weiß, denn Tucher war einer illegitimen Verbindung des Vaters meines Urgroßonkels, meines Ururgroßvaters, entsprungen (sagt man so?), einem Verhältnis meines Vorfahren mit einer Stallmagd, die in einer unserer Stallkammern mit Karl niederkam (sagt man so?). Karl wurde Pferdeknecht auf unserem Hof und blieb es, bis ihn der Bruder meines Urgroßvaters, mein Urgroßonkel, im Jahr '98 nach Amerika mitnahm. Über diese Verwandtschaft wurde nie gesprochen, aber Karl und der Urgroßonkel wussten, dass sie ersten Grades blutsverwandt waren, Halbbrüder, und dabei blieb es, ohne Aussicht, im selben Stammbaum zu erscheinen.

Auf dem Schiff hatte mein Onkel, der zwar nicht in der Auswandererklasse reiste, eine bettelarme Schweizerin namens Lys getroffen, die gerade der Hungersnot in ihrem unwegsamen Tal entkommen war. Erst waren sie nach Deutschland geflohen, sie und ihre beiden Schwestern, die jüngste war gerade drei Jahre alt. Der Rest der Familie ging zugrunde und verhungerte. Es war die letzte große Hungersnot in der Schweiz, von der wir nichts mehr wüssten, gäbe es die Briefe nicht, die Hungerbriefe, die sprachlosen Briefe, die zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten hin- und hergingen.

Die Schattengestalten: Mein Onkel, Urgroßonkel, hatte Mitleid mit ihnen und heiratete die älteste der drei Schwestern, noch in Buenos Aires. Es folgte eine beschwerliche Reise von mehreren Wochen, bis der Tross (es waren gut zwanzig Auswanderer mitgekommen, die sich von meinem Onkel hatten anführen lassen) die Höhe von Las Plumas und schließlich das Gelände erreichte, das sich mein Onkel in Buenos Aires ausgesucht und vom Plan weg gekauft hatte, Platz und Arbeit genug für sich und seine Leute, Arbeitslose, die damals noch nicht Arbeitslose hießen, die mit ihm im Tal eines noch namenlosen Flusses Nueva Alemania aufbauen sollten.

 

Für sie waren Tod, Heimat und meine Sprache fast dasselbe

 

Rosa, Norma, Patricia, die ganze Verwandtschaft, alle waren vors Haus getreten, mir zu Ehren, ihrem aus einer fernen, niemals gesehenen Heimat aufgetauchten Verwandten. Das Gerücht, ich sei angekommen, man habe einen blonden Mann gesehen, der vom geistesgestörten Chico Mendez bei den Omnibussen abgefangen worden sei, war schon bis zur Estancia Las Plumas vorgedrungen. Da standen sie, um mich zu begrüßen, eine nahgerückte mythische Figur. Da stand ich, blonder als vermutet und sprachlos, die Küsse dieser Menschen erwidernd, mit ihren Wangen, Nasen und Bartstoppeln und ihrem Lächeln. Es waren wunderschöne Erscheinungen, dunkle Schönheiten, die ich schon abbildweise bewundert hatte. (Wir hatten unsere Bilder voneinander.) Jetzt, da sie vor mir standen, musste ich noch mehr an unserer tatsächlichen Verwandtschaft zweifeln. Einen ganzen kurzen patagonischen Sommer hierbleiben? Sich jedes Mal neu abschlecken lassen, wenn man sich an der Haustür begegnete oder unten im Pueblo, aus Freude an den wiedergefundenen unsichtbaren Chromosomen?

Es gab schon ein Foto unseres Urmenschen, von dem wir alle herrührten. Unser Vorfahr, ein wohlhabender Bauer, ein Herrenbauer, war ja nur ein Emporkömmling. Ihn, einen lustigen Tiroler, hatte es aus seinem Tiroler Seitental in unser Seitental geschneit.

Meine Ururgroßmutter, die, sagte man, von wenig gewinnendem, ja finsterem Äußeren war, wie auch das großflächige, allein von ihr übriggebliebene Foto belegt, konnte es sich aufgrund ihres Erbes (Mühlen, Felder, Wälder, Großvieh, Küchen- und Stallmägde) leisten, einen schönen Mann aus den damaligen Wahlmöglichkeiten, Verhältnissen, Teichen herauszufischen, und hätte er auch außer seinem reizvollen Äußeren, seiner schönen Oberfläche gar nichts mitgebracht. Dieser Vorfahr war auch schon eine Art Auswanderer, ein Vertriebener, den es aus den engen, verwachsenen Tiroler Tälern ins Himmelreich verschlagen hat, in das Haus meines Urururgroßvaters, in mein späteres Geburtshaus: Es war nur ein Müllersknecht, den sich meine Vorfahrin mit dem schleierhaften Gesicht erkoren hat. Diese Ehe dauerte zwar bis zu ihrem siebenten Kind, ihrem Tod, aber aus Leidenschaft war er niemals zu meiner Vormutter gekommen. Ihn trieb es zur Stallmagd, die Tucher hieß und Tucherin gerufen wurde. Die Liebe hat sich also über die illegitime, die Seitenlinie fortgesetzt.

Schon Tucher war ein Kind der Liebe. Und wieder alle anderen, hinter dem Rücken meines Urgroßonkels erzeugten Kinder waren Liebesprodukte. Die Liebe hatte schon seinen Vater zum Betrug gezwungen. Und auch wieder den Sohn, alles Liebeserzeugnisse.

Ich hingegen stammte aus der genealogischen Hauptlinie. Ich war ein Kind, das sich nicht auf die Liebe zurückführen konnte, war daher nichts und niemand, nur Namensträger. Oder nur etwas Halbes, denn immerhin muss meine Vorfahrin ihren Tiroler geliebt haben. Mochte er selbst auch aus Besitzgier gehandelt haben, mochte er auch aus der Gegend von Schwaz in Tirol auf meine Vormutter gestoßen sein, immerhin setzte er auch die Hauptlinie fort, die sich auf Liebe nicht zurückführen kann oder nur halb. Ich liebe dich, schwor er der Stallmagd, aber auch mein Blut färbte er rot. Bei meiner Vorfahrin hielt er bis zu ihrem Tod aus und setzte ihr auch einen Stein »Zu ewigem Gedenken«, der zu meiner Zeit noch zu sehen war.

Hochsommer war es, als ich ankam. Da war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause. Doch auch hier war es so kalt, dass alles erst immer im nächsten Jahr richtig blühte. Ich mit meinem Wahn, der Quellen oder wenigstens Spuren seiner selbst suchte, Blutspuren, hatte den Ozean überflogen (ohne die geringste Anstrengung zwar und das meiste sowieso verschlafen und verflogen), stieß nun auf Adern, in denen das Blut an mir vorbeifloss. Die anderen wussten alles, aber sie dachten anders.

Ich war der Einzige, der dachte wie ich.

Lys hatte sich immer wieder mit Karl ins Bett gelegt, dafür gelebt, sich unter ihn hinzulegen. Mein Vorfahr aus Tirol hätte dieses Verhältnis seines Kindes aus Liebe geduldet, ich weiß. Er war auch so, er wollte auch nur das Eine. Aber fotografieren ließ er sich doch nicht mit seiner Stallmagd, sondern mit meiner Vormutter, so wie sich auch Lys nur mit ihrem auf dem Papier ausgewiesenen Mann fotografieren ließ. Im Kaminzimmer hingen die Fotografien von allen, der ganzen rechtmäßigen Verwandtschaft: betrügender Vater, betrogener Sohn, da hing der alte Adam. Und jetzt lachten alle nur, wenn sie ihre Herkunft bedachten. Das Bild rückte von Zeit zu Zeit ferner, erlangte allgemeinere Bedeutung. Weit über den einfachen Ururgroßvater hinaus war er zum Blutzeugen geworden, zu meinem und unserem Beweis, dass wir Leben hatten und haben, dass wir aus dem Schoß Abrahams in die Welt hinein, hoch vom Mastkorb, vorübergehend - Muss ich von dieser Erinnerung geheilt werden?

Ich ganz allein, inmitten dieses Ozeans. Das Blut, das fließt, wie es will, der Betrug, geht über den Ozean, schwimmt mit, wird hinübergeschleppt, kommt an, und mein Blut hätte gefrieren können.

Lys lag mit Karl im Bett, während mein Onkel erste Schneisen durch den Urwald ziehen ließ.

Er stellte diesen Nachkommen von Frau und Halbbruder, seinen illegitimen Neffen, ein schönes Leben sicher, eine sichere Anwartschaft auf ein schönes Grab auf unserem Friedhof. Der Chef des patagonischen Zweigs unserer Familie ... hat zwar keine richtige Familie gegründet, aber einen Familien-Friedhof, den hat er gegründet, ganz oben, auf dem höchsten Hügel zwisehen Pampa und Südanden. Außerhalb von Pico Grande, nicht für die anderen, nicht wie die anderen. Die lagen unten, über die Pampa verstreut, in einem dieser Löcher verschwunden, die ich vor allem anderen gesehen hatte, von Un-Gras überwachsen.

Gleich am ersten Tag schleppten sie mich auf den Friedhof. Ich sollte vor allem das schöne Grab meines gerade gestorbenen Onkels, den auch schon aus El Bolson eingetroffenen Grabstein anschauen. Im Chevrolet-Konvoi fuhren wir den holprigen Weg hinauf. Ich wurde in die Mitte der Fahrzeugbank gesetzt. Von ferne eine Erinnerung an die Nächte zwischen den Eltern, die sich damals, als ich drei Jahre alt war, vielleicht sogar noch geliebt haben, so sehr, dass sie mich, ihr Geschöpf vor Ort, dazwischen duldeten.

Es war seltsam, da oben meinen Namen zu lesen, nur meinen Namen, nichts und meinen Namen, dieses Mal auf dem Hintergrund der Anden und des Pazifischen Ozeans, der durch das Gebirge kaum verdeckt wurde und mir immer hervorzuschimmern schien. Eine auflösliche Ehe, die hier gestiftet war, die Ehe zwischen meinem Namen und den Anden, die sich zwischen den Ozean und meinen schweifenden Blick schoben. Mein seltsamer Name, der mich blutrot werden ließ, diesen wohlklingenden Namen, über dessen Bedeutung sie sich keine Illusionen machen sollte, dessen Offenbarung ich mir für den Tag meiner Rückreise aufsparen wollte. Da wollte ich es Rosa, die so hieß wie ich, sagen. Schwanz hießen wir, alle.

Der Himmel dazu ein kalter Himmel, so kalt, dass die Augen froren. Der Wind biss sich ins Haar, ins Gesicht, »der ewige Wind«, hatte mein Onkel geschrieben, der eisige Wind duldete nichts neben sich. Die Toten trugen meinen Namen. Meine Gedanken schweiften.

Trotz des Windes, wegen des Windes und der Kälte sah ich, wie ihre Wangen glühten, als Rosa auf den Namen deutete. Da stand mein Name mit dem katholischen Zeichen für Ewigkeit auf dem mattschimmernden Grabkreuz. Mein Onkel hat dieses Zeichen noch gekannt, auch ich kannte es noch, aber Rosa hatte davon keine Ahnung. Aber sie fotografierte mich und meinen Namen mit dem katholischen Zeichen für Ewigkeit.

Auf einem gewöhnlichen Friedhof gibt es außer den Gräbern und den Namen nicht viel zu sehen, von der Aussicht einmal abgesehen, die in gewisser Weise jeder Friedhof bietet: Immer schon waren Friedhöfe kleine Aussichtspunkte, immer lagen sie mitten in der unverfälschten Natur.

Ich stellte mich allem, was ich zu sehen bekam, mit einer heiteren Miene.

Ein A und 0 auf brüchigem Holzkreuz oder auch wie bei meinem jüngst verstorbenen Onkel auf brüchigem Marmor, und der Name Schwanz dazwischen: Sollte das einer Ewigkeit aus Wind und Kälte trotzen?

Aber meine Verwandten waren stolz auf diesen Friedhof, diesen Namen, dieses neue Grab, das möglicherweise das einzige auf der Welt war, das die Verbindung unserer Familie dokumentierte. Unser Friedhof, sagte sie und zeigte auf sich und mich, ließ ihren Zeigefinger zwischen sich und mir hin- und hergehen, spielen. Er erinnerte mich an meinen Friedhof, den Heimatfriedhof, die Mutter aller Friedhöfe, die ich bisher in aller Welt betreten habe, immer aufrecht und niedergeschlagen.

Rosa, meine Cousine, die mich bald liebte, wie ich sie liebte, hatte sich wohl vom ersten Augenblick an auf meine Seite geschlagen. Sie war für mich da, solange ich in Pico Grande war. Sie glaubte unsere Bande durch unseren Friedhof noch enger geknüpft. Auf dem Rückweg saß sie neben mir und wollte von mir hören, welcher Friedhof der schönere sei, unserer hier oder unserer dort. Ich könnt' es ihr nicht sagen.

Vielleicht wollte mich Rosa auch nur bekehren. Und von ihrem Liebhaber, mit dem Lastwagen im Norden, wusste ich auch noch nichts. Sie hatte vielleicht diese Gene von ihrer Schweizer Urgroßmutter bekommen, die auch fromm und voller Verlangen war.

Die Ur-Tante Lys hatte sieben Kinder bekommen, einen richtigen Wurf, dachte ich. Ihre Nachkommen lebten bis zum heutigen Tag. Du hast bei ihnen übernachtet, ein Pferd zum Ausreiten bekommen. Du bist mit ihnen zum Asado an einen der nummerierten Seen hinausgefahren. Du standest aufrecht auf der Ladefläche des Chevrolets und warst dem südargentinischen Sommerwind ausgesetzt. Aber den Stammbaum, den sie dir zur Vervollständigung der Familienannalen nachgeschickt haben, musst du zurückschicken.

Du wirst deine Geschichte neu schreiben müssen. Die Daten, die von den Auswanderern nachgeschickt wurden, löschen.

Es half nicht viel, mir klarzumachen, dass vor dem Chromosomengott das Blut nicht viel galt. Schon meinem längst verstorbenen Urgroßonkel war nichts anderes eingefallen, als dem Frevel seinen Segen und den Kindern von Frau und Halbbruder, deren Halbonkel er war, seinen Namen zu geben.

Sprechen konnte ich nicht mit allen.

Die dritte Generation sprach nur noch gebrochen Deutsch. Es kam immer auf die Mutter an. Über sie wurde die Muttersprache weitergegeben. »Friedhof«, »Grab«, »Grabstein«, »Grüß Gott!« und »Auf Wiedersehen!« konnten jedoch noch alle sagen.

Weihwasserkessel gab es in der Indianersprache, im araukanischen Dialekt, nicht, gewiss nicht. Aber meine deutschstämmige katholische Verwandtschaft war mit den letzten Dingen noch vertraut. Die wichtigsten Daten waren in fehlerfreiem Deutsch auf den Grabsteinen zu lesen, letzte Lebenszeichen.

Für sie waren Tod, Heimat und meine Sprache fast dasselbe.

 

Hier hatte ein Meteorit eingeschlagen. Wie entkommen?

 

Das Loch im Himmel, das sich gegen den Boden hin fortgesetzt hatte, schien mir zu groß für ein gewöhnliches Loch. Ein Loch in Himmel und Erde, schien mir.

Das Loch ist mit Wasser gefüllt, der Kopf mit Erinnerungen, mit Wasser und Erinnerungen.

Ich erinnere mich, ich höre ihre schlichte Sprache, die mit den wenigen Worten nicht zurechtkam, sich selbst mit Händen und Füßen helfen musste. Auch noch für die einfachsten Dinge waren zusätzliche Zeichen nötig. Was für ein schlechtes Spanisch sie sprachen! Es war alles ganz wie zu Hause.

Das wenige, das aus ihrem Mund, ihren Augen kam, und schon auf eine vollkommene Stummheit hinauslief! Saß ich mitten unter ihnen bei einem Stück Torte, bei einem in Illustriertenpapier eingewickelten, mir geschenkten Fisch oder um das Grillfeuer herum, immer mitten unter ihnen, gaben sie mir zu essen und zu trinken, sagten sie einfach: Iss!

 

Wie entkommen?

Bei den Scheinzypressen, den als Samengruß von zu Hause geschickten Tannen, mit meinem gerade verstorbenen Onkel, oberhalb der Estancia, mitten in Patagonien, am Rand der Kordilleren, am Anfang des Endes der Welt, wo die Sonne im Norden stand (ihr Norden war mein Süden) und der Hochsommer auf Ende Dezember fiel, allein mit meinem Taschenatlas.

Mein Taschenatlas - eine erste Orientierung, die Erde vor mir, vom Flugzeug aus hatte ich den gleichen Blick.

Mit meinem Onkel habe ich nie ein Wort gewechselt, seine Stimme brachte mir ein wackeliger Kassettenrecorder. Ich musste mir alles dazudenken. Ich ergab mich dem Spiel meiner Erinnerung, der Erinnerung, die mit mir spielte.

Im Anfang war mein Fernweh. Wohin hätte ich fliehen sollen? Wo wäre ich vor ihm sicher gewesen?

Meines ersten, meines alten Bundes eingedenk - meiner Ehe von Fernweh und Weltrettung: Zuerst zum Ernteeinsatz in einen Kibbuz, zu den Jaffa-Orangen, zum Zeichen, dass ich aller Welt Freund war und sein wollte. Oder die Kriegsgräberfürsorge? Waren nicht so und so viele meiner Vorfahren auf dem Feld der Ehre liegen geblieben? Welche Möglichkeiten, meinem Gebirge zu entkommen, hatte ich noch? Wie konnte ich mein Fernweh mit meinem Drang, die Welt zu retten und alles mit allem zu versöhnen, verbinden?

 

Ich saß nun unterhalb unseres Friedhofs und oberhalb der Estancia des Onkels, mein Reiseziel, im Angesicht der Schneeanden, auf dem Gipfel meiner Fluchtbewegungen.

Selbst die entlegensten Ziele hatte ich ausgewählt, im Anfang, als ich den Weltrettungsgedanken mit dem Fluchtgedanken verband:

Die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hatte schon früh, von Anfang an, meine Aufmerksamkeit erregt und war auch immer eine Art Lebensgefährte geblieben. In aller Frühe hatte ich ein Auge auf sie geworfen, mein Auge, ich sah, dass es aufs Meer hinausging. Es hätte mich vom Schiff reißen können, so sehr bebte alles unter mir, aber ich war angetan mit meinem Teerzeug, das Salzwasser konnte meinen Stiefeln und Gummimänteln nichts anhaben; und schon zog ich meinen ersten Ertrinkenden aus dem Wasser. Zu dieser Zeit konnte ich allerdings noch nicht schwimmen, aber dafür hatte ich einen Willen, der über das Wasser gebot.

Es kam der Biermann. Der wöchentliche Besuch unseres Bierfahrers. Dann schwebte die Taube aus La Paloma über dem Wasser meines Meeres. Schon damals war La Paloma mein Lieblingslied und blieb es und würde auch zur Musik gehören, die auf meiner Beerdigung zu hören sein würde, wie das Gegenstück: In einem kühlen Grunde. Jedem Element hatte ich ein Lieblingslied zugeordnet, dem Feuer und der Luft aber ein einziges, das Veni Creator Spiritus hieß.

Der Bierfahrer hat mich mit seinem Fernweh angesteckt. Es kam kein Schwan ins Haus. So ließ ich mich von meinem Bierfahrer mitreißen, mir von meinem Bierfahrer die Größe Wiens beschreiben, mit den Augen eines Soldaten, der den Wienerinnen die Hand geküsst, und wartete auf das Erscheinen des Düngemittelvertreters zweimal im Jahr. Auf diese Weise erfuhr ich sehr früh von jener nackt auf dem Tisch des Offizierscasinos tanzenden Diva mit einem anbetungswürdigen Arsch und Dinge, die ich niemals erfahren hätte, wenn nicht der Kunstdüngervertreter gekommen wäre. Er war im Geist Hitlers erzogen worden und hatte schon vor meiner Geburt seinen Glauben notwendigerweise verloren, hatte nichts mehr außer seinen halbseidenen Erinnerungen, die ich, ein Kind, aus ihm herauslockte. Ich habe ihn manches Mal zu seinen Erinnerungen verführt. Unmittelbar nach dem Ende gehörte er zu den Glücklichen, die, wenn auch als Flüchtlinge, um die halbe Welt gekommen sind. Sein Leben setzte er schließlich als Düngemittelvertreter fort, der Kunstdüngergott führte uns zusammen und führte uns wieder auseinander. Und auch der Biermann verschwand wieder aus meinem Leben und ließ mir seine Erinnerungen mit ihrem anbetungswürdigen Arsch zurück. Ich war daran hängengeblieben.

Er war schon ganz woanders, auf dem Friedhof von Tuttlingen, der Stadt von »Kannitverstan«, aber ich war immer noch bei diesem anbetungswürdigen Gegenstand, der sich bald in mir zu einem göttlichen Gegenspieler entwickelte, ja mehr denn je.

Einst durfte ich diese Gottheit nicht aufkommen lassen und versuchte, seine Anbetungswürdigkeit mit Gewalt aus mir zu vertreiben, so fromm war ich, dass ich keinen anderen Gott duldete.

Und dann? Erreichbar war die Schwäbische Alb, waren die halbhohen Gipfel des Allgäus. Auf sie hinauf, das ging. Aber ich hatte keine Lust auf sie, vom Tag an, als mir jener Arsch als anbetungswürdig aufging. Dennoch ging ich weiter zur Messe, ministrierte sogar und verstand schon im zweiten Jahr meines Lateins, wenn unser guter Pfarrer Strittmatter »lavabo inter innocentes manus meas« vor sich hin flüsterte und mich meinte.

Ich hatte es, damals, einst, und wie die Wörter hießen, die mir sagten, dass es vorbei war, gerade durch angeborene Frömmigkeit und Überredungskunst geschafft, über hundert Bildbände, die das Zweite Vatikanische Konzil unter dem Titel Die Welt aber soll erkennen festhielten, beinahe hundert Gläubigen aufzuschwatzen. Neunundneunzig von hundert Gläubigen kauften mein Die Welt aber. Dazu ging ich von Haus zu Haus wie ein längst in die Stadt gezogener Landstreicher. Von den Gläubigen waren schließlich neunundneunzig Prozent mit Die Welt aber versorgt, einige sogar doppelt. Es war mir gelungen, die Frömmsten von einem Ersatzband zu überzeugen.

Ich dürfte elf Jahre alt gewesen sein - Aber was ist aus diesen Büchern geworden? Der Titel meines Buches blieb mir auf immer etwas fremd, aber die fromme Tat ehrte mich und verschaffte mir einen kleinen Heilsvorsprung. -

Ich wundere mich, die Schneeanden zum Zeugen aufrufend, dass ich das alles gemacht und vermocht hatte, ohne die geringste Provision, alles umsonst, wenn ich von einem »Vergelt's Gott« absehe, dem katholischen Wort für »Vielen Dank«. Eine Geschäftsniete war ich, die aber die Gabe hatte, den anderen alles aufzuschwatzen, was ihnen von Schaden war, selbst Männern, die sich zwischen den Beinen kratzten, oder Frauen, die bis dahin nur an Gott und Kuchen gedacht hatten.

Schließlich saß ich so sehr fest, dass ich die Hoffnung, meinem Gebirge zu entkommen, vollständig aufgegeben hatte. Aber es hat mich doch noch hinausgeschleudert, der Nachtfrau zum Trotz, die mich im Bett haben wollte und im Dunkeln zu Hause. Es hat mich hinausgeschleudert, dachte ich.

Ich fahre immer noch, dachte ich, nun am Fuß dieser namenlosen Berge, die Nachtfrau konnte sich nicht durchsetzen, sondern der Bierfahrer. Er hat mich nicht mit Bier versorgt, sondern mit Fernweh.

Doch meinen Fluchtbewegungen, die durch die Gefangennahme vonseiten der Schule zum ersten Mal einen vernünftigen Grund bekamen, stellte sich von Anfang auch mein ererbter Gehorsam, meine Feigheit, mit der ich meinen Fatalismus zu kaschieren versuchte, entgegen. Mein von Anfang an erinnertes Leben als Leibeigener, als Höriger der Welt über mir und der Herren dieser Welt verhinderte mein Fortkommen und Blühen.

Hieß Blühen: sich verzehren?

Wenn ich mich nun wiederholt erinnerte und erinnern musste, wie es war, so sage ich, dass ich alles, was ich über meinen Biermann und den Kunstdüngervertreter von der Welt hörte, aufsog, gleichgültig, wie gut oder böse es war. Wenn es nur von weit her war.

Doch mein Gehorsam trieb mich außerdem auch noch ins Haus Gottes und in die Arme seiner Stellvertreter und ihrer Nachstellungen, mich, eine schließlich scheiternde Verbindung aus Demut (dienmuot) und Ehrgeiz, Fernweh (Weltflucht) und Welterlösungswillen, aus Feuer und Wasser, Erde und Luft. Ich, dieses Ich, ging schließlich in meiner Maul- und Klauenseuche auf (in diesem Fanalwort, ich weiß nicht, was für einen Namen es hatte, was mit mir war), die schlagartig ausbrach und alles, was ich war, gewesen war, zuschanden machte.

Also keinen Willen mehr, in See zu stechen, mich für die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger in die Wogen zu stürzen oder für die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft. Nie mehr mit der Deutschen Kriegsgräberfürsorge in die Bretagne oder mit Pax Christi nach Polen oder in einen Kibbuz zur Jaffa-Orangen-Ernte. Längst hatte ich meinem Treiben ein Ende gemacht. Und nun blieb mir auch nichts anderes mehr, ich hatte ja nicht einmal mehr mein Muttermal, und schon als Kind konnte ich jeden Abend, kurz bevor ich einschlief, nicht viel mehr denken als »wieder ein Tag weniger«.

Zuletzt trieb ich mich sogar im Überlinger Hauptbahnhof herum, um für die Bahnhofsmission Geld zu sammeln oder Seelen zu retten, die sich, gelegentlich sogar nachts, zu mir flüchteten, nachts in mein kleines Zimmerchen mit dem Alarmknopf unter dem Tisch. Vor mich hingesetzt hatten sie sich und wollten etwas zu essen von mir. Zweimal im Jahr ging ich mit meiner von oben genehmigten Sammelbüchse die einzelnen Restaurants, die Vorhallen und Nischen und anderen Örtlichkeiten durch. So viele waren das ja nicht in Überlingen. Auch die öffentlichen Anlagen sparte ich mit meiner frommen Büchse nicht aus, mit meinem Verlangen, meinem fromm fordernden Verlangen »nach einer kleinen Spende für die Bahnhofsmission«.

Diesen Satz habe ich tausendmal im Verlauf mehrerer durchaus erfolgreich gewordener Sammelaktionen vor mich hin gesagt. Er war mir mitgegeben worden von der Schwester, die mich mit einer Armbinde, die mich als Bahnhofsmission deklarierte, losgeschickt hatte, sodass ich sogleich als energisch fromm lächelnder Trottel vom Dienst zu erkennen war.

All diese Dinge behielt ich in Pico Grande fest bei mir. Überzeugt, dass gerade ein solcher Bericht etwas Neues gewesen wäre für Rosa, die alles wissen wollte und mich nach längst verflossenen Abenteuern ausfragte, dass das Herz wieder zu bluten anfing. Nein, die Bahnhofsmission und meinen frommen Wahn bis hin zu meinem Fernweh wollte ich bei mir behalten. Denn das hielt auch mich und diktierte mir nun meine Erinnerung. »Nicht einmal den Freischwimmer hast du geschafft!«, höhnte sie. Von wegen DLRG (Deutsche Lebensrettungsgesellschaft)!

Und wieder ging ich von Tisch zu Tisch und bettelte um eine kleine Spende für die Bahnhofsmission, ein Lächeln ins Spiel bringend, das sexuelles Wohlgefallen und einen Rette-deine-Seele-Eifer vortäuschte, alles aus Instinkt. Von Tisch zu Tisch lächelte ich undefinierbar, aber bestimmt, lächelte mich zwei Tage durch, zweimal im Jahr, zwei Jahre lang. Am Ende hatte ich das zweitbeste Ergebnis. Die Büchse wurde jeden Abend von der Schwester ausgeschüttet. Ich zählte vor, sie zählte nach, und nach zwei Tagen war ich an zweiter Stelle. Besser war ein zukünftiger Geistlicher, ein gutaussehendes Exemplar, der deswegen und weil er schöner »Grüß Gott!« sagen konnte als ich über mich triumphierte. Er hatte mich abgedrängt, auf Platz 2 verwiesen. Ich war nur, du warst nur der Zweitbeste und der Zweitschönste.

Die ganze Zeit schon versuchte sie, die Erinnerung, mich an den Haaren zu ziehen, mir Lästerungen durch die Ohren ... »Weiche, Satan!«, gebot ich ihr. »Apage Satanas!«, fluchte ich in meiner Erinnerung, so, wie ich es gelernt hatte.

 

Don Quixote von Pico Grande und ich

 

Fritz schlurfte mit herunterhängenden Hosen auf mich zu. Noch in der Tür sagte er mir, er sei krank. So sah er aus. Der Bademantel war vielleicht einmal ein Bademantel, deckte seine Blößen nicht zu. Ich sah blasses Fleisch, fern vom Leben. Haare, unnütz. Er hatte gar nicht bemerkt, dass auch seine Unterhose ganz am Boden, zwischen seinen Knöcheln und von innen nach außen - So öffnete er mir, ein Einblick in ein falsches Leben.

Wir sollten aber dennoch hereinkommen und mit ihm einen Whisky trinken.

Auch er wohnte etwas außerhalb, in einem kleinen Holzhaus, das in einer Mulde stand. An einem Wasserlauf, der aus kaltem, klarem Wasser bestand, von Pappeln gesäumt. Allein sie waren von der Straße aus zu sehen. Sein Haus war ein Holzhaus, aber voller Elektrogeräte, die ihm seine Schwester geschickt hatte. Nur Strom gab es nicht. Bis hin zu Mixer, Wäschetrockner, Brotschneider und elektrischer Zahnbürste war alles da. Fritz brachte es nicht übers Herz hinüberzuschreiben, dass er ohne Strom lebe.

Er nahm den Whisky aus der rattensicheren Waschmaschinentrommel.

Die Begegnung mit ihm riss ein Loch auf.

Bis ich ihn selbst kennenlernte, war er nur ein durch die Briefe meines Onkels Antonio geisternder Mensch gewesen. Elektrisches Licht gab es nicht, aber Bücher und Whisky gab es. Er tat sich mit dem Leben weh. Das war kein richtiges Leben, hinter seinen Büchern her, hinter ihren Fluchtgeschichten, ihrem Loch in der Straße.

Er las. Aber auch noch die Bibel war voller Ausflüchte, ließ er mich wissen: Adam floh aus dem Paradies ins Leben, Abraham aus dem Zweistrom- ins Gelobte Land. Die Israeliten flohen von den Fleischtöpfen Ägyptens zu den Heuschrecken in die Wüste. Jona flüchtete ans Ende der Welt, damals Tarschisch bei Gibraltar, jenem Felsen, den Fritz schon am dritten Tag seiner Fahrt und Flucht hinter sich gelassen hatte. Aber Jona kam nicht einmal nach Tarschisch. Er musste schon im Bauch des Walfischs aufgeben, blamables Ende einer Flucht. Immerhin folgte ein richtiges Leben mit Erlösung und Himmelfahrt.

 

Aber was war mit mir?

Es war wie im Nachsommer, dem ersten Roman, den ich gelesen habe. Wegen eines drohenden Gewitters kam mein junger Freund ans Gartentor des Alten, von da ins richtige Leben. Sein eigener Vater hatte eine leblose Figur abgegeben, zu vergleichen mit dem guten Josef innerhalb der Heiligen Familie. Vom Augenblick am Gartentor an gerechnet begann das richtige Leben. Der richtige Vater saß weiterhin tatenlos bei der Wiener Mutter, die die beste war, und weiter nichts, und bei der jüngeren, ebenfalls besten Schwester. Alle drei lebten von den Brocken, die der Sohn vom alten Herrn, der sich irgendwo am schönsten Ort in den Bergen niedergelassen hatte, nach Wien mitbrachte, jeweils, bevor der Winter einbrach. Gleich zu Beginn der Geschichte war der junge Mensch auf eine gottgleiche Figur gestoßen, die ihn am Gartentor belehrte, dass kein Gewitter zu erwarten sei. Und so war es dann mit allem. Der erste Streit blieb der einzige. Es folgte jene unbeschreibliche Richtigkeit der Dinge, das Nachsommerleben. Wie lange war das her!

Im Verlauf weniger Sommer hat der altkluge alte Herr seinem Gast alles beigebracht.

Und ich?

Hinter dem alten Herrn Fritz her, der mich in sein Haus und Leben zog, vor sich hin tappend, vor sich hin sterbend? Wie hatte der alterslose Freiherr seinen jungen Gast am schmiedeeisernen Rosengitter empfangen! Aber ich wurde mit einer von den Farben des Lebens verfärbten Unterhose konfrontiert. Mit der Einladung auf einen Whisky am hellen Tag. Kann man sich denken, dass Der Nachsommer mit einem Glas Whisky beginnt?

 

Friedrich Wilhelm von Streng kam am 21. Juli 1909 als einziger Sohn des Generaldirektors Geheimrat Oskar von Streng und seiner Frau Helene, geborene Padtberg, in Berlin zur Welt. Aufgewachsen in verschiedenen Städten, die Sommer im Landhaus auf Rügen. Privatlehrer bis zur Sexta. Studium der Rechte in Kiel. 1932 jüngster Referendar im preußischen Staatsdienst, 1933 entlassen (Gesetz zur Wiederherstellung der Ehre des Berufsbeamtentums; außerdem drohte der Unzuchtsparagraph 175).

1936 hatte Fritz, als wäre es eine Lustreise, mit unbekanntem Ziel das Deutsche Reich verlassen.

Nach dem Krieg und dem tausendjährigen Reich hat auch Fritz keine Entschädigung bekommen, als wäre so etwas möglich gewesen.

 

Fritz war ein schlechterzogenes Kind, hörte ich.

Seine Mutter hat ihn noch mit sieben Jahren von der Gouvernante im Kinderwagen herumfahren lassen. Die Milchzähne kamen auch erst im letzten Augenblick. Noch mit achtzig die süßen Sachen in Kinderportionen, mit Kindergäbelchen, zerschnitt das deutsche Stück Torte in zehn französische Teilchen, die er unter heftigen oralen Automatismen in sich hineinschob, das habe ich selbst gesehen.

Er war sein eigenes Haustier, hörte ich, trauriges Leben wie Tante Lotte. Erst die Katze überfahren, dann auch noch Oma gestorben. Das kann kein Zufall sein.

Streifte mein Gesicht, meine Augen, dann sah er sich auf einem Klavierhocker sitzen, die Beinchen baumeln, man hat ihn hinaufgesetzt. Dann schob die Frau den Hocker ganz nah an die Tastatur; und schon nach zwei Wochen war eine Melodie zu hören, die weniger war als Häuschen Klein, Fritzchen aber das Schönste schien, was er je gehört hatte.

Es folgten Erinnerungen ohne Chronologie.

Kennen Sie das Schmerzspiel?

Wir waren von selbst draufgekommen. Was uns so einfiel mit zwölf, dreizehn Jahren. Ein demokratisches Spiel, es wurde gewürfelt. Und dann wurde der eine an den Baum gebunden, und ein anderer durfte mit ihm machen, was er wollte, solange das Spiel dauerte. Süße Schmerzen und saure Schmerzen, laute und leise, leere und volle, oben und unten, innen und außen. Sieger war, wer am Ende keine Lust mehr hatte. Dann kam der Spielkönig und setzte sich noch eine Weile auf den Bauch unseres Opfers und ging mit seinen Knien gegen die Achseln. Noch ein paar Quieker, und schon war alles fertig. Das Spiel war in unserer Gegend wohl so alt, dass die Erwachsenen, die uns bei unserem Treiben beobachteten, selbst mit einer gewissen Wehmut alles von ferne verfolgten.

Dann hörte ich, wie es weiterging. 1936 fand er sich in der Neuen Welt, die er als Weltreisender getarnt erreicht hatte.

Rosa ließ mich wissen, dass bei ihm auch in der Liebe nicht alles in Ordnung sei.

»Einheimisches Fell!«, sagte er, streifte den Überzug, in dem ich ziemlich tief versunken war.

 

Dieses Haus, dieses Fell, dieser Sessel, in dem er saß: Alles verlangte eine Erklärung, glaubte er, angefangen mit der Überfahrt.

»Dieses Schiff! Die Sierra Ventana, ein richtiges Auswandererschiff. Ich war ja oben beim Kapitän, Auslauf genug, während die Auswandererklasse eng gedrängt, wissen Sie, ganz hinten und unten, im Schiffsbauch eingerichtet war. Möglichst viele Auswanderer sollten untergebracht werden, da, wo das Schiff am meisten schwankte. Bald nach dem Ersten Krieg haben wir wieder mit den Schiffen angefangen; und zwar mit größeren Schiffen als je. Ballin war zwar tot. Er hatte sich auf die Nachricht hin, der Kaiser habe abgedankt, einfach umgebracht! Stellen Sie sich vor: sich wegen dieser Figur auch noch umbringen! Der Engländer hat uns ja kein einziges Schiff gelassen«, sagte mein Vater, »nur den Hafentender Grüß Gott!. Mit ihm mussten wir ganz von vorne anfangen«, sagte er. Ein Schiff, kaum größer als Magellans 90- und 130-Tonner. Ein Hafentender! Grüß Gott! -

Vom ganzen Wilhelminischen Seeimperium blieb einzig die kleine Grüß Gott! Mit der Grüß Gott!, die eigentlich für Hafenrundfahrten gedacht war, wurde das abgeschnittene Ostpreußen versorgt. Aber dann wurden die großen Sierra-Schiffe gebaut: Sierra Nevada, Sierra Ventana, Sierra Madre, die allerdings nach dem abermals verlorenen Krieg wieder an England fielen. Meine Freundin Hazel schrieb mir, dass sie immer noch, unter anderem, falschem Namen zwar, fahren.

An die Überfahrt will ich gleich gar nicht denken.

Es hieß, dass auch der abgedankte Zogu von Albanien an Bord war. Zu sehen bekam ich ihn nicht. Jeden Tag gab es gedruckte Speisekarten.

Und Fritz kramte und fand bald eines dieser Relikte zum Andenken an einen längst vergangenen Hunger und Durst. Selbst in der Auswandererklasse gab es diese gedruckten Karten, wenn auch blasser und mit weniger drauf, sagte Fritz. Da stand einfach »Brot mit Butter« an der Stelle, wo bei uns »Mille Foglie« zu lesen war. Aus Platzgründen wurde da abwechselnd geschlafen und gewacht.

Das Meer war eine Zumutung für mich. Ich war dem Land entkommen, zu aufgewühlt, um einfach auf das Meer hinauszuschauen. Ich flüchtete mich in die Bibliothek. Aber da waren nur Bücher von und über Admiral Tirpitz, vom Ostafrikahelden Lettow-Vorbeck, dem Ozeanflieger Freiherr von Hünefeld, dem U-Boot-Kommandanten Paul König und von Zeppelin, den ich Ihnen nicht erklären muss. Auch eine Bibel. Die einzige Geschichte, die mit Hochseeschifffahrt zu tun hatte, war die mit Jona und dem Fisch. Das war noch einmal gutgegangen. Auch die langweiligsten Abschnitte der Heiligen Schrift waren schon halb totgelesen.

Da waren Leute unter den Auswanderern, die später wegen der Moskitos aufgaben. Auch Selbstmordversuche aus ähnlichen Gründen.

Müde? -

Dann zeigte er mir noch ein Bild der Sierra Ventana. Ein schönes Schiff, zweifellos, aber Rosa war längst ungeduldig und wollte mich wegziehen.

Dennoch hat Fritz mir noch zum Abschied den Haifisch erklärt, so wie er ihm erklärt worden war; und zwar von einem Geistlichen, der wie er, aber aus anderen Gründen, nach Amerika unterwegs war.

Eine Art Predigt folgte.

 

Zweiundzwanzig Tage zog ich auf der Sierra Ventana einen Strich durchs Meer. Unter mir wimmelte es von Haifischen. Sie zogen mit uns und unserem Abfall ein Stück weit in die Neue Welt. Irgendwann drehten sie ab und fanden ein neues Schiff.

Von der Überfahrt weiß ich nichts mehr. Ich weiß nur noch, dass ich weggefahren bin. Dann kann ich mich an die Haie und an einen Jesuitenpater erinnern. Er hat mir den Haifisch erklärt. Zunächst war ich überrascht, als er mir sagte, dass der Papst der Stellvertreter Gottes auf Erden, im Wasser aber der Hai sein Stellvertreter sei.

Haben Sie vom Untergang des Circus Hagenbeck gehört?

Wie sich das Blut mit dem Wasser vermischte, wie alles unterging? Hat einer überlebt, dann kann er erzählen.

Und der Hai? Der Hai ist zunächst eingesetzt, die Meere zu durchstreifen und mich daran zu erinnern, dass ich ein Landtier bin. Ich bin ein Landtier. Ich gehöre nicht ins Wasser. Ich bin ein Landtier. Das gilt auch für den Stellvertreter Gottes zu Lande, den Heiligen Vater, sagte er. Er fuhr in den Urwald, um eine Missionsstation zu übernehmen. Amazonas. Wissen Sie überhaupt, woher der seinen Namen hat? Da waren die ersten Spanier, die fuhren den Fluss hinauf und hielten die Indianer für Frauen, nur weil sie keine Haare auf der Brust hatten, stellen Sie sich das vor! Aber weil sie so kriegerisch waren wie die Amazonen, hat man sie ... Die meisten sind heute katholisch, aber es sind nicht mehr so viele.

Im Amazonas gibt es den Hai nicht, dafür den Piranha, einen entsprechenden Süßwasserfisch.

Nun folgte die Rechtfertigung des Haifischs aus dogmatischer Sicht.

Zunächst ist er einfach da! Sie können staunen! Ist es nicht wunderbar, was es alles gibt! Bald fallen Ihnen aber die langen, spitzen, in Bändern angeordneten Zähne, die ständig nachwachsenden Zahnreihen auf, und vielleicht wird Ihnen sogar ein Arm oder der Kopf abgebissen. Was sagen Sie dann? - Falsch gefragt! Dummkopf, der Ihnen noch nicht weggebissen ist! Sie müssen viel ursprünglicher fragen: Warum und wozu habe ich einen Kopf?

Genau. Denn ich soll nicht nur dumm staunen, nicht bei den Zähnen stecken bleiben, sondern hinter den Sinn, auch hinter diese Haifischzähne kommen. Weiterkommen. Dahinterkommen. Und ich gebe Ihnen, junger Freund, das erste Stichwort: Schöpfungsordnung, natürliche Theologie.

Das sind zwei Stichwörter. Streng gedacht ist der Haifisch eine Spur Gottes, die direkt zum Schöpfer führt. Nicht etwa durch den Haifischzahn, sondern durch den Menschen wird die Schöpfungsordnung durcheinandergebracht. Ich habe nie von einem perversen Haifisch gehört. In keinem einzigen Meer ist man bisher auf einen perversen Haifisch gestoßen, das heißt auf einen, der den Menschen, der im Wasser nichts verloren hat, nicht weggebissen hätte und stattdessen lieber anderen, ich möchte sagen: unnatürlichen Vergnügungen nachgegangen wäre, ich denke jetzt vom Hai und der Schöpfungsordnung aus.

Wir sind alle Stellvertreter Gottes, einerlei, wo wir als sein Geschöpf gerade stehen oder liegen, kriechen oder fliegen oder schwimmen. Der Hai ist der Bevollmächtigte Gottes unter Wasser. Überall werden seine Zähne seinen Namen verkünden. Ist das nicht herrlich! Wir sind schon fast in der Mystik. Wenn Sie wollen, haben wir hier auch schon einen ersten Gottesbeweis: dass du gefressen wirst, offenbart, dass es etwas Höheres gibt als dich. Auch der gottloseste Seefahrer könnte die Spur erkennen, die vom Haifischzahn und weiter zum Schöpfergott und letzten Grund aller Dinge führt. Aber oftmals will er nicht und stirbt einen blutig sinnlosen Haifischtod, was es für einen geistig Blinden auch tatsächlich ist.

Wirf mich ins Wasser! Es pikst vielleicht etwas. Du landest im Haifischmaul. Anders gesehen landest du aber im Paradies! Du zitterst zwar etwas, dir wird flau im Bauch. Aber vielleicht hilft dir die Vorstellung, dass du jetzt als Leckerbissen dienst. Das ist im Grunde ein wunderbares Geheimnis. Der Opfergedanke gehört strenggenommen in diesen Zusammenhang. Du opferst dich stellvertretend für diesen Haifisch und für alle Haifische deines Lebens.

Das Leben ist Leiden, aber der Mensch sträubt sich dagegen. Das Leben ist gefährlich. Aber schon das Karnickel will nichts davon wissen, obwohl es wissen müsste, dass das Leben nichts anderes ist als Leid und Gefahr. Aufgrund seines Instinkts, du aber? Hast du ein Gewissen und einen Schutzengel? Was also? Warum Gut und Böse, klein und groß, Wasser und Land, hier und dort nicht unterscheiden wollen?

Hast du dich in das Schmerzgeheimnis eingelebt, wirst du keine dummen Fragen mehr stellen. Willst du, dass dein Haifisch verhungert? Du wirst jetzt wissen, dass das Haifischmaul nicht eigentlich Schmerz und Tod in Aussicht stellt, sondern eigentlich Erlösung und ewiges Leben. Dein Verschwinden im Haifischmaul ist der Anfang deiner ewigen Herrlichkeit. Der Dummkopf sagt: Schmerz und Unsinn. Ich sage: Erlösung und Herrlichkeit. Es vollzieht sich vor deinen Augen, durch dich, in dir, mit dir eine Verinnerlichung grandiosen Ausmaßes, deren scharlachrotes Gesicht dich nicht schrecken kann. Alles fließt hier zusammen: Sinn und Unsinn, Seele und Blut, Schmerz und Opfer, Erlösung und Herrlichkeit, Hingabe und Vollendung, Jüngster Tag und himmlische Liebe. Weißt du endlich, dass sich hier an dir ein letzter Akt der Liebe vollzieht? Du weißt es nicht?

Eine dem Frieden dienende Liebesmission lässt ihn die Meere durchstreifen. »O Haifischzahn! Himmlisches Geheimnis! Sinngeheimnis! Himmlisches Heilswerkzeug!« Ich kann gar nicht genug glauben, verriet mir mein Pater. Er hatte sich in seinen Glauben hineingesteigert.

Aber ich, am Anfang evangelisch, habe nie wieder durch einen Geistlichen etwas besser verstanden. Alles war einleuchtend.

Sie fahren jetzt nach Südamerika. Wollen Sie sich nicht lieber gleich opfern?

Wollen wir nicht zusammen ins Wasser springen?

Aber dann haben die Indianer keinen mehr, der ihnen die göttlichen Geheimnisse verkündet.

Ich wollte lieber noch den Umweg über Patagonien machen, sagte Fritz.

Schön, dass der Mensch so weit fahren kann, sagte der Pater. Die Kreatur leidet, aber das Geheimnis ist herrlich! - Das war vom heiligen Laurentius von Schnüffis. Kommen Sie, ich will Sie segnen.

Er segnete mich.

 

Und zu Hause wartete man auf eine Beschreibung von Rio!